Wie rekrutiert man jemand für eine Position die es bis zum Kennenlernen dieser Person nicht gab?

In der Talent Economy muss wie an einem anderen Markt wirtschaftlich gearbeitet werden. Das «Produkt» muss einen Abnehmer finden, sonst wird an der Sache vorbei akquiriert und verkauft. Dies ist eine Frage des Gebens und Nehmens sowie der Nachfrage und des Angebots. Talent Economy richtig zu betreiben heisst, Talente, Skills, Vakanzen, Firmen- und Mitarbeiterziele in Einklang zu bringen und dies möglichst so, dass Firmen und potenzielle Mitarbeitende zum richtigen Zeitpunkt von- und miteinander profitieren. Das Verständnis, dass es keine klassischen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Konstrukte mehr gibt, sondern die Kollaboration auf Augenhöhe entsteht, muss jedoch vorhanden sein. Wer Arbeit gibt und wer welche nimmt, ist nicht mehr klar unterscheidbar. Im digitalen Umfeld der Entwickler, Programmierer oder Engineers hat die verkäuferische Direktansprache von Kandidaten (Active Sourcing) inflationär zugenommen, während sich die Responserate gleichzeitig verringert hat. Dennoch ist bekannt, dass auch diese «Most Wanted» für neue Herausforderungen offen sind. Studien sprechen von über 60 Prozent latent Stellensuchenden in diesen Bereichen.

Die Frage war also, wie man diese Personen dazu bringt, ohne Direktansprache aktiv zu werden. Meiner Erfahrung nach liegen die Hürden in der Kontaktaufnahme sowie den aufwändigen Bewerbungsprozessen. Deswegen kam uns die 1-Click-Bewerbung über LinkedIn mehr als entgegen, denn somit konnten Kandidaten mit vorhandenem Profil ohne grossen Aufwand mit uns in Kontakt treten.Im Wissen, dass die gesuchten Personen auf LinkedIn aktiv sind, lag es für Ricardo nahe, Stellen auf LinkedIn auszuschreiben mit dem expliziten Hinweis, sich mit einem Klick zu melden und damit eine Interessensbekundung abzugeben, ohne ein Motivationsschreiben zu verfassen oder die gesamten Bewerbungsunterlagen zu schicken. Dafür wurden die Stellenausschreibungen offener verfasst und beinhalteten nur wenige «zwingende Kriterien». Bei den Kandidaten legten wir mehr Wert auf deren Persönlichkeit und Engagement als auf ihre Erfahrungen und Kompetenzen. Diese Vorgehensweise haben wir bei Ricardo auch im Business Development, im Online-Marketing sowie nach Möglichkeit in der Entwicklung angewendet, um an eine breite und qualitativ hochwertige Auswahl von latent Stellensuchenden zu gelangen. Je nach Funktion kamen so über hundert Bewerbungen von vermeintlich raren Fachkräften zustande.

Alle Bewerber wurden persönlich, konkret sowie zeitnah kontaktiert und über Absagegründe oder die nächsten Schritte informiert, teilweise sogar innerhalb einer Stunde. Erste telefonische Interviews fanden wenige Tage nach der Kontaktaufnahme mit der Linie statt, wobei wir bei den Erstgesprächen darauf achteten, uns gezielt, aber locker auszutauschen. Im Mittelpunkt der Gespräche standen das gegenseitige Kennenlernen sowie die beidseitigen Vorstellungen über die Ausgestaltung des Jobprofils. Für Kandidaten, die auf die ausgeschriebene Position nicht ideal passten, jedoch mit ihren Skills und ihrer Persönlichkeit überzeugten, schufen wir neue Positionen. Vor ihrem Stellenantritt erarbeiteten wir gemeinsam in groben Zügen die neu geschaffenen Funktionen, regelten die vertraglichen Fragen und klärten Details zur Arbeitsgestaltung nach dem Unternehmenseintritt. Aus diesen Kooperationen entstanden beispielsweise eine auf E-Commerce ausgerichtete Kundenberaterfunktion mit übergreifender Projektverantwortung oder eine Geschäftsentwicklungsstelle. Um so weit zu kommen waren jedoch beiderseits Offenheit, Agilität und Risikobereitschaft gefragt. Von den zahlreichen abgesagten Kandidaten erreichten uns unzählige Feedbacks mit Bedankung und dass wir ihr Pofil in unseren Talent-Pool aufnehmen dürfen. Dank der Verlinkung über LinkedIn, den aktuellen Profilen im Netz, der einfachen Kontaktaufnahme sowie der authentischen, raschen und agilen Herangehensweise konnten wir eine Umgebung schaffen, in der frühere Kandidaten und Ricardo jederzeit gegenseitig aufeinander zugehen können, wenn neue Stellen geschaffen werden. Monetäre Einsparungen ergaben sich bei reduzierten Vermittlungsgebühren und dem Aufbau eines Talentpools mit rasch über tausend Kandidatenprofilen und hinterlegter Kommunikations-Geschichte.

In eine ähnliche Richtung zielt die sogenannte «Gig Economy», welche das Modell der eigenverantwortlichen Arbeitsteilung und Bezahlung nach Auftrag umschreibt und momentan tendenziell negativ mit Uber-Fahrern als freie Mitarbeitende ohne soziale Absicherung in Verbindung gebracht wird. Im Gros sind jedoch damit freie Mitarbeitende gemeint, die gleichzeitig in mehreren Projekten respektive bei verschiedenen Unternehmen tätig sind. Bekannt ist diese Form am ehesten aus der Agentur-Szene. Immer häufiger kommt es aber auch bei IT-Fachkräften zu individuellen und neuen kollaborativen Zusammenarbeitsformen. Viele dieser Fachkräfte sind zudem häufig im Startup-Umfeld involviert oder an solchen Firmen beteiligt. Diese Menschen in einer Firma einzubinden, ihnen Teile von Software-Entwicklungen anzuvertrauen oder sie diese parallel zum bestehenden Geschäft entwickeln zu lassen, sind exemplarische Beispiele der Gig Economy.«Mehrgleisige Karrierepläne» werden demzufolge gemäss einer Studie von PWC und HR Today mit gleichzeitiger individueller Jobausgestaltung künftig zu zusätzlichen Herausforderungen für das HR führen; und das in mehrfacher Hinsicht: Einerseits in der Frage der Firmenkultur, denn wie schafft man Zugehörigkeit bei gleichzeitig mehreren Anstellungsverhältnissen? Aber auch beim geistigem Eigentum, Datenschutz und bei der Laufbahnentwicklung gibt es viele ungeklärte Fragen. Zudem fragt sich, welcher Arbeitgeber ein Interesse daran hat, in die Weiterbildung eines Gig-Economy-Mitarbeitenden zu investieren, wenn zwei andere Auftraggeber dies ebenfalls nicht tun?


Artikel geschrieben für HR Today / 06/2017Autor: Angelo Ciaramella
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